Wie die Corona-Krise sich auf die Psyche auswirkt

Woran liegt es, dass viele die aktuelle Situation mit Corona und deren Auswirkungen auf das tägliche Leben als ein neues Level der Überforderung und Hilflosigkeit erleben? Wenn es doch Themen wie anhaltende Kriege, den Klimawandel, die Digitalisierung, Naturkatastrophen oder Extremismus gibt, die massive Ängste hervorrufen können. Ich habe Dr. Stephanie Grabhorn, Chefärztin der psychosomatischen Privatklinik Blomenburg, zu dem Phänomen befragt.

BeautyDelicious: Warum schlägt die Corona-Krise so stark auf die Psyche?

Dr. Stephanie Grabhorn: Für die Corona-Krise fehlt jede Referenz. Die Lehren aus der Bankenkrise passen ebenso wenig ins Schema, wie das Leid nach Naturkatastrophen. Staatschefs bedienen sich kämpferischer Vokabeln und führen in einen Krieg gegen den unsichtbaren Gegner. Es handelt sich aktuell tatsächlich um eine nie dagewesene Krise, in der es um die gesundheitliche und finanzielle Existenz aller geht. Das führt zu Ohnmacht und Hilflosigkeit, und diese bedeuten Dauerstress. Das Gehirn strebt Kontrolle an und kennt nur zwei Modi: kämpfen oder flüchten!

Wenn beide Optionen ausfallen, finden wir uns in einer Pattsituation wieder, die eine ganze Flut von Gefühlen auslösen kann – je nach Situation und Persönlichkeit: Einige Menschen reagieren mit Angst und Panik, andere mit Rückzug, Depression, Trauer oder Wut. Andere werden aggressiv und rebellieren. Die menschliche Psyche hat deshalb diverse Mechanismen entwickelt, um sich vor den unerträglichen Gefühlen von Ohnmacht, Unsicherheit und Hilflosigkeit zu schützen. Menschen kompensieren Stresssituationen, indem sie sich und anderen Kontrolle und Handlungsfähigkeit vorgaukeln. Auf diese Weise müssen Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht in voller Härte erlebt werden.

BeautyDelicious: Warum halten sich Menschen nicht z.B. an Kontakteinschränkungen, Abstandhalten und Maskenpflicht, während andere sich wie in einer Art ängstlichen Stockstarre befinden?

Dr. Stephanie Grabhorn: Zu den Abwehrmechanismen, die uns handlungsfähig halten, zählt im ersten Schritt die Verleugnung. Die Verleugnung findet zum Beispiel Ausdruck in einer verharmlosenden Haltung: So schlimm ist das alles nicht, das ist nur Panikmache! Auch Rationalisierung unterstützt dabei, in der gewohnten Spur zu bleiben und eine neue, unerwünschte Situation zu vermeiden oder auszublenden. Der Mechanismus der Rationalisierung bedient sich flexibler Fakten oder Interpretationen wie: Ich darf mich mit anderen treffen, denn es ist erwiesen, dass das gesünder ist, als zu Hause zu bleiben.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm beschreibt die Kompensation von Ohnmacht in der bürgerlichen Gesellschaft unter anderem durch das Ergreifen eines Berufes mit einer Machtposition oder auch mit der Anschaffung eines Haustieres, über das Macht ausgeübt werden kann. Auch die Machtausübung über den Partner oder die eigenen Kinder kann ein vorübergehendes Gefühl von Sicherheit erzeugen. Je stärker das Gefühl der eigenen Ohnmacht erlebt wird und je nach individueller Persönlichkeitsstruktur, kann die Machtdemonstration extrem bis hin zu Gewalt und Sadismus gehen. So erklärt sich auch die beharrliche Uneinsichtigkeit einiger Bürger. In Regelverstößen erleben diese Menschen Selbstbestimmtheit und das Gefühl, Macht über die Situation zu erlangen. Das Mantra dieser Machtdemonstration könnte lauten: Ich lasse mich nicht einschränken! Erste Statistiken haben dazu bereits eine Zunahme an häuslicher Gewalt und Aggression während der Corona-Epidemie gezeigt.

Umgekehrt kann Hilflosigkeit und Machtlosigkeit aber auch zu Trauer, Grübeln, Ängsten, Rückzug, Selbstaufgabe und Lähmung führen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Ohnmacht mit Burnout, Stress und körperlicher Gesundheit zusammenhängen kann. Die gefühlte Unfähigkeit, Bedrohungen aus dem Weg zu gehen oder wirksam zu begegnen, kann enorme Ängste und Panik auslösen. Gefühle wie Ohnmacht werden unter anderem auch besonders schlimm, wenn man das Ausmaß der Bedrohung nicht vorhersagen und einschätzen kann. Die Unsicherheit und Ungewissheit werden hier als besonders quälend erlebt.

Keine Kontrolle über die eigene körperliche Sicherheit zu haben, kann einen chronisch erhöhten Angstpegel zur Folge haben. Chronische Angst kann sich langfristig negativ auf die Gesundheit auswirken. Wir erwarten während und nach der Corona- Krise eine Zunahme von Depressionen und Angststörungen. Das Gefühl der Unsicherheit und Ungewissheit führt bei ängstlichen Menschen zur Verstärkung von dysfunktionalen Denkmustern wie katastrophisierendem Denken. Dazu zählen Gedankenspiralen zu Extremen wie: Wir werden alle sterben! Oder: Ich werde all mein Geld verlieren. Außerdem tritt eine selektive Wahrnehmung ein, die nur bestimmte Aspekte der Umwelt aufnimmt und andere ausgeblendet. Betroffene sehen dann zum Beispiel nur noch Leute mit Atemschutzmasken herumlaufen.

BeautyDelicious: Themen rund um Depressionen haben in den letzten Wochen in den Medien stark zugenommen. Woran liegt das?

Dr. Stephanie Grabhorn: Auch eine depressive Stimmung lässt sich auf Ohnmacht und Hilflosigkeit zurückführen. In einer depressiven Reaktion neigen Menschen dazu, ihre Erfahrungen auf eine negative Weise zu interpretieren und die Geschehnisse nicht mehr rational beurteilen zu können, sondern sie persönlich auf sich zu beziehen. Sie stehen unter dem Eindruck, dass die Welt besonders ihnen Ungeheuerliches abverlangt und ihnen dabei gleichzeitig ständig Hindernisse in den Weg stellt. Depressive Menschen neigen dann zu der Annahme, dass ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten und ihr Leiden in der Zukunft kein Ende finden werden und dass jegliche Unternehmungen sowieso scheitern werden.

Zu den Symptomen, die sich aus dem besonderen Zukunftsbild des depressiven Patienten erklären lassen, zählen unter anderem Pessimismus, Tatenlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. In der Depression erwartet ein Mensch, dass seine Anstrengungen keinen Erfolg hervorbringen werden, also unternimmt er nichts. Suizidgedanken sind ein extremer Ausdruck des Wunsches, einer Situation zu entkommen, die unerträglich und unabänderlich erscheint. Viele Menschen leiden in der Depression auch unter körperlichen Symptomen wie Appetitlosigkeit, Unruhe, Anspannung und Schlafstörungen.

BeautyDelicious: Was genau können Menschen jetzt machen, um mit der Situation klarzukommen und wie kann professionelle Hilfe aussehen? Seelsorgetelefon? Hausarzt? Krankenhaus? Was tun bei langen Wartezeiten für einen Termin beim Therapeuten?

Dr. Stephanie Grabhorn: Je nach Persönlichkeitsstruktur und Lebenssituation gehen die Menschen unterschiedlich mit der Bedrohung durch das Corona-Virus um. Je gesünder und belastbarer die eigenen psychischen Schutzmechanismen sind, umso besonnener wird ein Mensch reagieren. Umso länger die Bedrohung anhält und umso unkalkulierbarer die Situation wird, desto eher versagen die Mechanismen der Selbstregulation bei den Bürgern.

Isolation und Langeweile tragen noch zusätzlich zur Dekompensation bei.
In erster Instanz können Menschen, die Ängste, Sorgen und Stress verspüren, einige fundamentale Tipps beherzigen, um die derzeitige Krise besser zu überstehen. Dazu zählen beispielweise regelmäßige sportliche Aktivitäten, das Beibehalten gewisser Routinen und insbesondere die digitale Kontaktpflege. Weitere Tipps finden sich aktuell auf zahlreichen Fachwebseiten.

Auch ein Seelsorgetelefon und der Hausarzt können bei ersten Sorgen und Nöten Auskünfte geben, unterstützen und im Falle des Hausarztes beispielsweise eine weitere Therapie einleiten. Zahlreiche ehrenamtliche Hotlines sind bundesspezifisch eingerichtet und im Internet zu finden. Insgesamt haben wir beobachtet, dass das Onlineangebot an unterstützenden Maßnahmen in den letzten Wochen rasant zugenommen hat und Betroffene zahlreiche moderne Möglichkeiten haben, sich ihrer mentalen Gesundheit zu widmen.

Professionelle Hilfe ist jedoch insbesondere bei den Anzeichen einer Stressfolgeerkrankung wie einer Depression oder einer Traumafolgestörung essenziell. Die Angebote der Videosprechstunden und virtuellen Therapiesitzungen sind in den letzten Wochen ebenso rapide angestiegen. Bei langen Wartezeiten ist es für Betroffene ratsam, sich in erster Linie an ihren Hausarzt zu wenden. Auch Akutkliniken wie die unsere sind für eine intensive, ganzheitliche und schnelle Betreuung geeignet. Psychosomatisch-psychiatrische Kliniken sind weiterhin geöffnet und bieten Betroffenen eine spezialisierte und kompetente Behandlung.

BeautyDelicious: Liebe Frau Dr. Grabhorn, vielen Dank für das informative Interview.