1. Liebe Frau Prof. Dr. med. Kautzky-Willer, Sie sind seit 2010 Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien und haben eine Gender Medicine Unit gegründet. Was kann man sich unter Gender Medicine vorstellen?
Zum einen wird der Frage nach den Geschlechtsunterschieden auf Körperebene nachgegangen. Zum anderen werden soziale, psychische und kulturelle Einflussfaktoren auf Entstehung, Verlauf und Behandlung von Krankheiten erforscht. Kurz gesagt beschäftigt sich Gendermedizin mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten in Gesundheitsfragen bei Männern wie Frauen. Das Ziel ist dabei immer, die Gesundheit von Männern wie Frauen zu verbessern und vor allem auch Über-, Unter- oder Fehlbehandlungen zu vermeiden. Zum Glück ist das Thema mittlerweile präsent und wird an medizinischen Universitäten wie Wien oder der Charité in Berlin gelehrt. Es gibt 79 Gene auf dem Y-, 1.500 auf dem X-Chromosom und somit viele Unterschiede zwischen Mann und Frau. Medizinisch sollten daher unbedingt beide Geschlechter individuell betrachtet werden.
2. Warum ist es wichtig, beim Thema Gesundheit Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu machen?
Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind sowohl bei den Symptomen, den Risikofaktoren als auch der Verträglichkeit von Medikamenten groß. Allein wenn man das Thema Herzinfarkt betrachtet: Bei Frauen wird dieser später erkannt, weil die Symptome oftmals anders sind als bei Männern. Die klassischen Symptome sind bekannt: Schmerzen in der Brust, die in den linken Arm oder Hals ausstrahlen. Bei Frauen sind aber Schmerzen im Oberbauch häufig, das geht hin bis zu Rücken- und Nackenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Erschöpfung. Fakt ist, dass statistisch gesehen mehr Frauen als Männer an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung sterben und Herzinfarkte bei jungen Frauen zunehmen, die dann auch eine schlechtere Prognose haben. Ein Grund für die Zunahme liegt an dem Anstieg der Risikolast bei Frauen, wie Fett- und Zuckerstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und Bewegungsmangel. Dazu kommen dann auch noch rund um das 50. Lebensjahr die hormonellen Veränderungen im Klimakterium, die viele Veränderungen, so auch eine Zunahme von Bauchfett und Entzündungsfaktoren, mit sich bringen. Gerade dann ist es wichtig, dass Frau sich noch mehr auf die eigene Gesundheit konzentriert.
Die Lebenserwartungen für Männer und Frauen sind in den vergangenen Jahren gestiegen – überraschend ist aber die Entwicklung, dass die Differenz zwischen beiden geringer wird. Die Lebenserwartung für Frauen ist grundsätzlich höher und liegt heute bei 84 Jahren. Die Männer holen aber auf, die Differenz liegt aktuell bei 4,7 Jahren. Die Frage ist, warum die Lebenserwartung bei Frauen weniger stark steigt als bei Männern. Bei Betrachtung der Statistik für gesunde Lebensjahre laut Eurostat 2019 (statistisches Amt der Europäischen Union) liegt diese bei Männern mit 57 Jahren und Frauen mit 57,1 Jahren in Österreich fast gleichauf, während der europäische Mittelwert für Frauen bei 64,2 Jahren liegt. Das heißt für uns, dass österreichische Frauen letztendlich mehr Lebenszeit mit chronischen Erkrankungen und damit mit Einschränkungen verbringen. Das sollte uns zu denken geben.
3. Obwohl man weiß, dass es Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, wurden bis in die jüngste Vergangenheit beide Geschlechter gleich behandelt bzw. waren Männer und männliche Versuchstiere die Norm. Seit wann findet hier ein Umdenken statt und warum hat es so lange gedauert?
Die Idee der Frauengesundheitszentren entstand mit der Frauenbewegung in den 1970er- und 80er-Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt stellte allein der Mann den Prototyp. Den ersten Gesundheitsaktivistinnen ging es darum, Frauen mehr Wissen über ihren eigenen Körper zu ermöglichen. Frauen begannen, sich selbst und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen. Die Frauengesundheitsbewegung stellte von Anfang an die Definitionsmacht der Medizin infrage. Sie richtete den Blick auf die vielen Faktoren, die die Gesundheit von Frauen beeinflussen, wie z. B. ihre wirtschaftliche Situation und die Qualität ihrer Ausbildung, ihr Alter, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, sexuelle Orientierung, Herkunft, die familiäre Arbeitsteilung, die Entscheidung für oder gegen ein Leben als Mutter.
4. Wenn man Beipackzettel liest, gibt es bei der Dosierung keinen Unterschied zwischen Frau und Mann. Ist Gender Medicine bei den Pharmakonzernen noch nicht angekommen? Und was kann jede/r Einzelne tun, damit man dem Geschlecht entsprechend bestmöglich versorgt wird?
Leider werden die Daten noch nicht so aufbereitet. Meines Wissens gibt es in Amerika ein einziges Medikament, ein Schlafmittel, bei dem die Dosierungsempfehlung konkret auf das Geschlecht eingeht. Jeder Frau empfehle ich, sehr genau nachzufragen, die Dosierung zu hinterfragen und bestmöglich Informationen auch in Bezug auf mögliche Nebenwirkungen speziell bei Frauen und Wechselwirkungen mit anderen Präparaten einzufordern. Nicht einfach alles ungefragt hinnehmen!